Meine eigenen Erfahrungen
Knapp zwölf Jahre war ich alt, als ich von einem mir bekannten, erwachsenen Mann sexuell bedrängt wurde. Mehrfach am selben Tag kam es zu ganz eindeutig sexuell motivierten Grapschereien. Einen sich androhenden Ge.verkehr konnte ich mit plötzlich aufbrechendem Mut zum Widerstand durch Stimme und Bewegung von mir abwenden.
Dabei half mir einerseits, dass ich schon als Kind Kampfsporttraining machte und darin immer wieder hörte:
"Niemand hat das Recht, euch anzupacken."
'Okay, dann also du auch nicht, du Widerling!'
Diese Erkenntnis gab Mut. Außerdem tauchten Bilder und Aussagen aus dem Sexualkundeunterricht in meinem Kopf auf:
Von Schmusereien und mehr,
die Erwachsene oder Jugendliche
in gegenseitigem Einverständnis
miteinander teilen.
'Hey, was soll das? Ich bin ein Kind. Und ich will das ganz klar NICHT.'
"NEIN!"
Durch meine letztendlich laut ausgesprochene Weigerung ließ sich der Täter verunsichern und von weiteren Angriffen abhalten. Zum Glück. Gleichzeitig blieb so einem anderen anwesenden Kind, Kleinkind, die weitere Beobachtung von sexualisierten Übergriffen erspart. Das ist inzwischen mehr als dreißig Jahre her.
Sexualisierte Übergriffe auf Mädchen hatten in dieser Zeit in der Vorstellung von "normalen Menschen" höchstens als Schandtaten von "bösen, fremden Männern" Platz in den Schlagzeilen.
Und wenn einer Frau "sowas" passierte, dann hatte sie doch bestimmt auch selbst schuld daran. Sexualisierte Übergriffe auf Jungen wurden üblicherweise nicht einmal in Betracht gezogen, denn schließlich "passiert sowas keinem Jungen". Sexualisierte Übergriffe galten weithin als unheimliches Schreckgespenst, das vom eigenen Leben weit weg war und höchstens anderen widerfuhr. Sexualisierte Übergriffe im eigenen, persönlichen Umfeld? Undenkbar!
Selbsthilfegruppen und ehrenamtliche Hilfsorganisationen gegen Gewalt standen noch am Anfang, wurden oft nicht
ernst genommen und waren kaum bekannt. Das Internet als Informationsquelle für alle war noch nicht
einmal vorstellbar. Entsprechend war es damals für ganz normale Leute mit ganz normalem Lebenswandel so gut wie unmöglich, überhaupt Hilfe und Unterstützung zu
bekommen.
So hätten auch meine Eltern mir nicht viel weiter helfen können.
Ich blieb für mehrere Jahre allein mit den quälenden Erinnerungen an das, was mir passiert war. Erst mit achtzehn Jahren traute ich mich, einen guten Freund ins Vertrauen zu ziehen, als mich die Erinnerungen immer mehr bedrängten und zur Verzweiflung brachten.
Nach den ersten Schrecksekunden erwiderte mein guter Freund spürbar bewegt:
"Kann ich dir
helfen? Du glaubst doch nicht, dass ich dich jetzt damit allein lasse."
Für mich ging die Sonne auf! Ein ganzes Gebirge fiel mir vom Herzen. Danke!
Ich hatte darüber gesprochen! Und mein Ansprechpartner wies mich nicht ab!
Tatsächlich
konnte ich dann auch durch die Hilfe dieses Freundes zum ersten Mal Broschüren und Literatur zum Thema finden und die
Beratungsstelle einer Hilfsorganisation ausfindig machen. Seine vorbehaltlose Unterstützung von Anfang an war für mich ein Segen. Genauso wie die ebenso bedingungslose Zugewandtheit und Stärkung
durch eine Freundin, die ich bald darauf ins Vertrauen zog. Sie begleitete mich später beim ersten Besuch in der Beratungsstelle und schenkte mir damit eine große Portion
Zuversicht.
Die unerwartete spontane Solidarität meiner Freunde war eine unglaublich befreiende, erleichternde Erfahrung, die mich ermutigte, meine eigene Gewalterfahrung als solche anzuerkennen und aufzuarbeiten. Eine Erfahrung, die mich in meinem tiefen Interesse bestärkte, auch anderen betroffenen Jungen und Mädchen helfen zu wollen.
Noch zu Schulzeiten fing ich an, mein eigenes Gewalterlebnis und seine Folgen für mein Leben aufzuschreiben und zu spiegeln. In Tagebuchform, Kurzgeschichten, Gedichten und Romanszenen gab ich dem Form, Gesicht und Gewicht, was mir geschehen war und mich seit Jahren einschränkte und bedrängte. Ebenso suchte ich den Kontakt zu Hilfsorganisationen und erzählte Mitschülerinnen, Bekannten und Freundinnen von der tollen Arbeit, die diese Vereine mit ihren freiwilligen Helferinnen und Helfern zu Gunsten von Mädchen und Jungen mit Gewalterfahrung leisten:
Beratung, Information, Unterstützung, Stärkung.
Viele Gespräche mit Gleichaltrigen in dieser Zeit zeigten mir auf, dass meine eigene Erfahrung mit sexueller Gewalt kein Einzelfall war und leider wohl auch heute noch nicht ist: Auch im normalen Verliebtsein scheint immer noch üblich zu sein, dass eine/r sich nimmt und meint nehmen zu dürfen, was die/der andere noch gar nicht zu geben bereit ist.
'War doch nicht böse gemeint.'
Erschreckend.
Durch Nichts zu rechtfertigen.
(Sprungziel: Anker-01, ist in der Zelle oben links neben diesem Textfeld definiert)